3. Auktion / Baden: Das Stockach-Provisorium
Das „Stockach-Provisorium“, eine versehentlich ungezähnte 3 Kreuzer Briefmarke auf Brief von Freiburg nach Stockach. Um Geld von einem säumigen Zahler einzutreiben, legte der Kaufmann Constantin Dandler aus Stockach seinem Nachfrageschreiben bei einem auswärtigen Bürgermeisteramt das Rückporto von 3 Kreuzern bei. Die versehentlich ungezähnte statt gezähnte 3 Kreuzer Briefmarke hatte Dandler erst kurz zuvor am Postamt in Stockach erworben.
Er ahnte nicht, dass die seltene Briefmarke über 150 Jahre später mit einem Startpreis von EUR 100‘000.- das Spitzenstück der Heinrich Köhler Auktion am 27. Juni 2020 sein würde.
Zuschlag EUR 300‘000.-

Baden 1862/66, Wappenausgabe 3 Kreuzer rosa ungezähnt, sogenanntes „Stockach-Provisorium“ sehr schön farbfrisch in der typischen blassrosa Nuance und allseits voll- bis breitrandig mit sauber auf- und nebengesetztem Doppelkreisstempel „FREIBURG 22 JAN.“ (1868) sowie Ovalstempel „FREIBURG POSTABL. THIENGEN“ und Uhrradstempel „10“ (Waltershofen) auf vollständigem Faltbrief mit Text aus Waltershofen an Herrn Constantin Dandler in Stockach mit rückseitigem Bahnpoststempel „HEIDELBERG-BASEL“ und Ankunftsstempel „STOCKACH“. Sehr schöne, frische und tadellose Erhaltung. Aus dem Briefinhalt geht hervor, dass Constantin Dandler sich in Waltershofen nach einer bestimmten Person erkundigte, offensichtlich legte er die Marke seiner Anfrage als Rückporto bei. Der Absender schrieb die Antwort auf das von Antragssteller mitgesandte Briefpapier mit Dandler’s Präge-Absenderstempel: „… und derselbe seinen gegenwärtigen Wohnsitz in Carlsruhe, Spittalstraße No. 3… hat“.
Dies ist der einzige bekannte vollständige Brief mit dem Stockach-Provisorium, darüber hinaus sind an gebrauchten Exemplaren nur eine lose Marke sowie eine Vorderseite mit Stempel ‚CARSLRUHE‘ und 18 Einzelmarken und Briefstücke mit Stempel „STOCKACH“ registriert.
Eine der größten und prominentesten Seltenheiten nicht nur der Baden- sondern auch der gesamten Altdeutschland-Philatelie. Inseitig signiert Unverferth und Hunziker, Fotoattest Stegmüller BPP (2019) (Mi.-Nr. 18U)
Provenienz: 46. E.Mohrmann-Auktion (1942), Gerold Anderegg (Schwenn-Auktion 1966), Dr. Herbert Schnapka (61. Corinphila-Auktion, 1979), John Boker jr. (1987)
Wer war C. Dandler aus Stockach?
Dandler war ein 1822 als Eisenwarenhandlung gegründetes Unternehmen am Hermannsberg am Ortsausgang von Stockach, das über fünf Generationen als Familienunternehmen geführt wurde. 2015 erfolgte die Aufteilung in mehrere Unternehmen. Der am 21. Mai 1837 geborene Kaufmann Constantin Dandler dürfte die zweite Generation in der Geschichte des Familienunternehmens gewesen sein. Er heiratete im Oktober 1867 Emilia Welte.
Betrachtet man nun alle Fakten, dann dürfte sich die Geschichte des „Freiburger“ Stockach-Provisoriums in etwa so ereignet haben:
Offenbar war ein Mathias Dorst aus Waltershofen bei Freiburg ein Kunde des Constantin Dandler in Stockach, der seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachkam. Zum Jahreswechsel 1867/68 stellte Constantin Dandler Nachforschungen über den Verbleib seines Kunden bei den Behörden an. Wo hält sich der säumige Zahler Mathias Dorst auf? Hat er vielleicht Vermögen, welches man zum Ausgleich der Schuld pfänden könnte? So richtete Dandler sein „werthes Gesuch“ hinsichtlich der Vermögensverhältnisse des Mathias Dorst an das Bürgermeisteramt in Waltershofen. Um dem Amt die Antwort zu vereinfachen, legte er einen seiner mit Namensprägung „C.Dandler“ versehenen Blanko-Briefbogen bei und frankierte diesen für das Rückporto. Er nahm eine der 3 Kreuzer Marken, die er Ende 1867 am Postamt in Stockach auf Vorrat für die Firmenkorrespondenz erworben hatte. Wahrscheinlich dachte sich Constantin Dandler nichts dabei, vielleicht ärgerte er sich sogar über den Mehraufwand, als er oder sein Mitarbeiter die Briefmarke aus einem versehentlich ungezähnten Bogen mit der Schere schneiden musste. Denn sonst waren seit vielen Jahren die Briefmarken immer gezähnt und konnten ohne eine Schere aus dem Bogen getrennt werden.
Das Bürgermeisteramt erfüllte den Wunsch hinsichtlich der Auskunft über Mathias Dorst. Ein Beamter schrieb den erbetenen Bericht auf den von Dandler vorbereiteten und frankierten Briefbogen, legte diesen in die Brieflade des Landbriefträgers von Waltershofen (Uhrradstempel „10“). Von dort ging der Brief zur Postablage Thiengen um dann zum vorgesetzten Postamt Freiburg geleitet zu werden. Dort wurde die am Postamt von Stockach erworbene vorfrankierte ungezähnte 3-Kreuzer-Marke am 22. Januar (1868) abgestempelt. Mit der Bahnpost Heidelberg-Basel gelangte der Brief noch am gleichen Tag nach Stockach.
Die Nachricht des Bürgermeisteramtes aus Waltershofen lässt Rückschlüsse über die beiden in Carlsruhe gestempelten „Stockach-Provisorien“ zu. Wir erfahren vom Beamten aus Waltershofen, dass Mathias Dorst als „Fabrikarbeiter in Carlsruhe“ tätig war. Sehr wahrscheinlich hat Constantin Dandler gleiche Anfragen auch beim Amt in Karlsruhe und bei Drosts Arbeitgeber getätigt. Da die in Carlsruhe gestempelten Stockach-Provisorien vor der Verwendung in Freiburg datieren, hatte Constantin Dandler sich offensichtlich zunächst an die Karlsruher Behörde mit seinem Auskunfts-Gesuch gewandt. Die mit Stockach-Provisorien vorfrankierten Antwortbriefe aus Freiburg und Carlsruhe überlebten im Archiv der Firma Dandler, aus dem sie bereits vor etwa 100 Jahren den Weg in die Philatelie gefunden haben. Nicht bekannt ist, ob alle heute bekannten ungezähnten „Stockach-Provisorien“ aus dem Markenvorrat und der Geschäftspost des Kaufmanns Constantin Dandler stammen. Ebenfalls unbekannt ist, ob sich der Aufwand für die Nachforschungen gelohnt hat und Constantin Dandler zum guten Schluss die Schuld von Mathias Dorst eintreiben konnte.